29.5.-2.7.2011

Seline Baumgartner, Bettina Disler, Michelle Kohler, Taus MakhachevaNicole Michel und Francisco Sierra

Mit der Ausstellung und der Edition «Steh auf und renn weg mit ihr – über die Liebe und das Unmögliche» wagen wir den Versuch, die Liebe als Ereignis des alltäglichen Lebens zu begreifen, auf ein Neues zu hinterfragen, anzuzweifeln. Nicht dass das Gefühl oder der Zustand dadurch vereinfacht würden, im Gegenteil: vielleicht ist dieses Unterfangen auch der eklektizistische Versuch im Jahr 2011 die Wichtig- und Nichtigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Liebe, als tiefe Wertschätzung gegenüber einem Lebewesen verstanden, hat viele Facetten und ruft sofort nicht nur positive Konnotationen hervor. Das Gefühl des Verliebtseins, dieser Zustand des temporären Irrsinns, kann neurowissenschaftlich erklärt werden. Verliebt sich ein Mensch sorgen verschiedene Botenstoffe für Euphorie (Dopamin), Aufregung (Adrenalin), rauschartige Glücksgefühle und tiefes Wohlbefinden (Endorphin und Cortisol). Laut Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation gewöhnt sich der Körper an diese Dosen und das Gehirn beendet nach ungefähr 24 bis 36 Monaten diesen sensorischen «Rauschzustand». Dies macht Sinn: Ökonomisch seint es nicht sinnvoll, die für die Eroberung eines Partners nötigen Energien für eine längere Zeit aufrechtzuerhalten.

Liebe wird im Alltag meist als Gefühl bezeichnet. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann grenzt sich davon ab und begreift Liebe als Kommunikationsmedium: in diesem Sinne macht sie die Annahme von Kommunikation im System der Liebesbeziehung wahrscheinlich. Menschen die zueinander in einer solchen Beziehung stehen, dürfen an ihren Partner die Erwartung stellen von ihm in ihrer ganzen Individualität berücksichtig zu werden.

Die französische Philosophin Marie-Odile Métral untersucht die Liebe als kulturelles Phänomen, welches als System von Mythen, Riten und Zeremonien  bzw. als Diskurse und Praktiken dazu beiträgt, die Gefühlsebene des Menschen bewusst zu erfahren. Luhmann versteht die Liebe vor allem als kommunikative Ausdrucksform von Intimität, während Métral die Liebe als ein Zusammenspiel von Sprache und Handlung bestimmt, das dazu dient, sich des Gefühls bewusst zu werden.

Kulturell und historisch ist «Liebe» ein schillernder Begriff, der nicht nur in der deutschen Sprache in vielfältigen Kontexten und in den unterschiedlichsten Bedeutungsschattierungen verwendet wird. Das Phänomen wurde in den verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaften unterschiedlich aufgefasst und erlebt. Auch wenn die Liebe als naturgegebenes, völkerumspannendes oder aber weltenverbindendes und zeitloses Phänomen betrachtet wird, ist sie als kulturgeschichtlicher Faktor kulturraum- und epochenabhängig.

Der Weg, den die Liebe durch die Antike, über das Mittelalter, Renaissance, über die Aufklärung und die verschiedenen Repressionen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu gehen hatte, fand neben der Religion und Philosophie, in den bildenden Künsten, dem Theater, in der Musik und in der Literatur unzählige Formen.

Ernst Bloch legte in den fünfziger Jahren mit seinem Hauptwerk «Das Prinzip Hoffnung» einen philosophischen Entwurf vor, der um die Vorwegnahme der Zukunft kreist. Er hielt fest, dass der Mensch sich im Antizipieren des Noch-Nicht vorwärts träume. In Wunschbilder gebannt, kann die Verheissung der Liebe sich als konkreter Tagtraum manifestieren. Die Liebe male das Ihre immer früher, als sie es habe. Vielleicht geht es im Heute vor allem darum, die Verheissung auf ihren Wert für den Alltag zu überprüfen und als romantisches Konzept für jeden Einzelnen (den auch Verliebte bleiben manchmal allein), in einer Partnerschaft oder in einem erweiterten Konglomerat (mit mehreren Partnern oder Kindern) auszutesten.

Der US-Autor David Levithan erzählt in seinem 2011 erschienen Buch «The Lover's Dictionary» enzyklopädisch die Geschichte einer Liebe, wie die meisten von uns sich das, falls noch nicht selber erlebt, zumindest vorstellen könnten. Erst auf der Suche wird zu einem späteren Zeitpunkt unerwartet über jenen Menschen gestolpert, mit dem man, erst Küsse austauschend und später Tisch und Bett teilend, das Zusammensein erprobt. Es wird gestritten und einander vermisst, jeder Begriff erzählt einen Teil der Geschichte, fragmentarisch und nicht chronologisch. Beim Buchstaben L wie Liebe enthält er sich seiner Stimme: «Ich werde den Versuch nicht wagen».  

David Levithans Charaktere glauben an die Liebe und an die Konstellation der Zweier-Beziehung. Nicht so Charlyne Yi. Die junge Frau begibt sich im Mockumentary «Paper Heart» zusammen mit ihrem Freund, dem Filmemacher Nicholas Jasenovec auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten um das Geheimnis der Liebe zu ergründen. «Glaubst du an die Liebe?» werden auf diesem Trip die unterschiedlichsten Leute gefragt, vom Hochzeits-Beamten in Las Vegas bis zu spielenden Kindern in einem Park in San Francisco. Der Film lässt offen was real und was inszeniert ist, die sorgfältige Zusammensetzung der Orte, Plätze, Menschen sowie ihrer Schicksale beantwortet die Frage nie abschliessend lässt einen aber hoffnungsvoll zurück.

Diese beiden Werke zeitgenössischen Schaffens haben gemein, dass sie eine fragmentierte Erzählform wählen und durch bewusst gewählte Auslassungen funktionieren. Ebenso ist der Weg das Ziel, die Reise ist eine Herausforderung ohne die es am Ende nichts zu gewinnen gibt. Der Diskurs über die Liebe ermöglicht es einerseits, gesellschaftlich normierte Aussagen zu decodieren und verdeutlicht andererseits, die Schwierigkeit, dieses komplexe Gefühl zu entzaubern.

Nadine Wietlisbach, Juni 2011

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Die Ausstellung vereint Positionen aktuellen Kunstschaffens, deren Inhalte, lose miteinander verknüpft, sich letzten Endes um divergierende Aspekte der Liebe drehen. Wir freuen uns, das Palais Bleu als Gefäss für eine besondere Roadshow zu nutzen, dessen Winkel und Böden als Ort einer Auslegeordnung dienen, die hoffentlich hält was sie verspricht: irritierende und subtile Annäherungen an ein immer aktuelles Thema.

Michelle Kohler die in ihren fotografischen und installativen Arbeiten kontinuierlich den häuslichen sowie den Aussen-Raum und dessen Funktion untersucht, verändert im Treppenhaus die Fensterfront in einen verliebten Schrebergarten. Wenn zwei verliebt sind, und das gilt wohl auch in der Pflanzenwelt, lacht oder weint ein Dritter. Die Arbeit «pour l'amour des lieux» entstand vor Ort. 

Seline Baumgartner erfasst in ihrem Langzeit-Projekt «Lebensübersicht» mit Farbstift und Stempeln das Leben, ihr Leben mit allen Verzweigungen und Verästelungen, in einer strukturierten Form. Ihre Übersetzung tausender emotionaler Momente aber auch die lebensnotwendige Tätigkeit des Schlafens vereinfacht sie in rote, blaue, gelbe und grüne Balken. Die beiden Pläne im 1. Stock zeigen die Varianten aus der Sicht der 26-jährigen Seilen Baumgartner, das Leben (und die Zeiten) mit oder ohne Kinder. 

Nicole Michel zeigt zum Einen Ausgewähltes aus ihrem Bilderarchiv und zum Anderen sorgfältig Verschnürtes das an Reliquienschätze erinnert. In der Biedermeierzeit dienten Haarlocken als Andenken an geliebte Mitmenschen, manche der verschnürten Objekte könnten auf diesen Brauch hinweisen. Nicole Michel arbeitet mit Schichten und Schichtungen innerhalb der Medienwelten die uns tagtäglich umgeben und entdeckt darin neue Zusammenhänge, die neu in Beziehung zueinander gestellt, aus Krieg Frieden machen und durch diese Distanz an Sprengkraft gewinnen beziehungsweise verlieren.

Taus Makhacheva's nostalgisch anmutende Videoarbeit entführt uns in ihre Heimatstadt Makhachkala, der Hauptstadt der russischen Republik Dagestan im südlichen Kaukasien. Dort stehen viele Gebäude wie jenes, das wir in ihrer Arbeit «A Space of Celebration» sehen. Räume die für 200, 300, 500 und 1'000 Gäste konzipiert sind und die bis heute einen wichtigen Raum für die Traditionen und Rituale der Heiratszeremonie bilden wählt sie als ihr Setting aus: Humorvoll und ironisch lässt sie ein abstrahiertes Hochzeitspaar durch die Räumlichkeiten tanzen.

Bettina Disler's Arbeit «if love is the answer could you please rephrase the question?» zeigt uns Momente in denen wir, unheimlich angezogen vom grossen Moment intimer Zweisamkeit, zwischen dem Gefühl des Berührtwerdens (beinahe im physischen Sinn) und der Verletzung einer eigentlich nicht für unsere Augen und Ohren bestimmten Situation entscheiden müssen. Auch wenn die Gespräche und Gesten der Paare bis zu einem bestimmten Punkt inszeniert wurden fehlt uns das Instrumentarium zur Unterscheidung von Realität und Fiktion: Viel zu wahr scheinen uns die Aussagen, die Komplimente - und doch, was soll das Kompliment über die Qualität des Kaffees? Wie spricht man über die Liebe?

Francisco Sierra malt und zeichnet: Seine Welt, die Welt seiner Protagonistinnen und Protagonisten - ob hyperrealistisch in Öl gemalt oder mit Kugelschreiber gezeichnet - ist wild und sanft und böse und zärtlich. In meisterlicher Manier ausgeführt sind seine Arbeiten ein Panoptikum das verführt. Francisco Sierra malt nicht selten Gegenstände oder Menschen die sich in seiner direkten Umgebung befinden und entführt sie in eine zuweilen sureale, paradoxe Bildwelt: Das Zusammen, das Bei- und Miteinander bildet dabei ein wiederkehrendes Motiv.

 

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Die in einer Auflage von 150 Stück erschienene Edition funktioniert als Erweiterung zur Ausstellung und vereint literarische Texte, Essays und Gedichte von André Schürmann, Anna Chudozilov, Barbara Schuler, Christoph Simon, Katharina Egli, Luca Tratschin, Mariann Bühler, Sereina Steinemann und Urs Güney. Ausserdem die fotografische Arbeit "Resonanzgeflechte" der Münchner Fotografin Ute Klein. Zu erstehen für CHF 15.00. Gestaltet von Mario Suter.

 

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Kleine Anekdote zur Ausstellung:

 R: "Who is curating a show about love...?"

 J: "Nadine, I told you."

 R: "Kind of old-school, kind of seen-before... Is she a wired one?

J: "No... I think she' s romantic."

R: "Well, that's pretty much the same, right?!"

 

 

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Beitrag von Kristin Schmidt im St.Galler Tagblatt, 22. Juni 2011