Verschiebungen

Intervention 1: 18.01.2014 / Intervention 2: 14.02.2014 

Angela Wüst verwandelt den Palais Bleu in eine poetisch-surreale Architektur und regt zum Nachdenken über die Dimensionen unserer Lebensräume nach. Mit ihren Projektionen analoger Medien konfrontiert sie im ehemaligen Pflegeheim überlagerte Bilder von Trogener Wohnhäusern mit Konstrukten architektonischer Gebilde, welche den Blick für die Wahrnehmung des Gebäudes schärfen. Die im Innern stattfindende Auseinandersetzung mit dem Ort ergänzt sie um eine eindrückliche, poetische Video-Projektion im extremen Hochformat auf die Aussenfassade des Hinterhofs: Verblüffend täuschend legen sich Bilder anderer Hinterhof-Situationen, Erinnerungen gleich, schleierhaft über den ausspringenden Treppenhausanbau des Palais Bleu.

„and being so many different sizes in a day is very confusing.” [1] 

Die Zeile entstammt von Lewis Carolls Feder. Sie ist Teil des 5. Kapitels der Geschichte «Alice‘s Adventures in Wonderland», in dem das junge Mädchen, wohl im Traum, mal schrumpft, mal wachst, mal schrumpft… Jedes Mal muss sie sich von neuem auf die verschiedenen Dimensionen einstellen und hat ihre Mühen, sich darin selbst nicht zu verlieren.

Etwas Traumwandlerisches hat Angela Wüsts Installation durchaus auch. Doch sind die verschachtelten Bilder von Trogener Wohnhäusern, die sie im ehemaligen Spitalgang auf die Wände projiziert, reale Architekturen. In kubistischer Überlagerung werden geometrische Formen, Trapeze, Rechtecke und Schräglagen von Gebäuden betont. Giebeldächer, Durchblicke auf Passagen, Fenster und Fensterrähmen, Vorsprünge, Garagentore, Regenrohre, Anbauten, ein farbiges Gartenhäuschen aus Plastik. Die einzelnen Architekturfragmente sind durchaus erkennbar, doch wirken sie fremd. Einige scheinen teilweise in verschiedene Ebenen verrückt zu sein, andere wirken zu seltsamen Konstrukten gewandelt. Sie zu einem Ganzen zusammenfügen? Für unser Auge schwierig. 

Während der Kubismus der Moderne mit seinem Zerlegungsprozess eine gleichzeitige Ansichtigkeit von allen Seiten bezweckte, handelt es sich bei Angela Wüsts Werken, wider optischen Eindrucks, jeweils nur um ein Bild aus einer einzigen Perspektive. Die Verschachtelung erreicht sie durch das Projizieren der Fotografien, die sie auf Streifzügen durch Trogen gemacht hat, auf Holzscheite unterschiedlicher Formate und Positionierung. Aus den wiederum abfotografierten Situationen dieser Beamerprojektionen erstellte sie vier neue Dias, welche direkt über dem Boden projiziert werden, aber nicht mal in 1-Meter-Höhe herauf prangern. Klein aber delikat. Um sie zu betrachten, schauen wir, entgegen unserer gewohnten Weise, hinunter. Sie sind im Gang verteilt, angesiedelt. Umrahmt werden sie von zwei grossen Projektionen am hinteren Ende des Gangs bei der Tür zur Werkstatt und neben dem Eingang zur Bar. Diese grossen Projektionen zeigen keine realen Gebäude. Es sind dieselben Holzscheite, auf welche die Künstlerin die kleinen Fotos projiziert hat. Aufgestellt und aufeinandergestapelt täuschen sie gleichsam architektonische Gebilde vor, greifen Gegebenheiten der Palais-Bleu-Architektur - der Farben und Formen - oder Strukturen der Trogener Häuserfotografien auf. Manche Gebilde tauchen zweifach auf. Die Entdeckung einer Formstruktur auf dem einen Bild schärft den Blick für die andere, fordert dazu auf, die Umgebung präzise zu betrachten. 

Es ist nicht das erste Mal, dass Angela Wüst gesehene Raumstrukturen auf den vorhandenen Raum projiziert. Nachdem sie in früheren Arbeiten zunächst mit Fotografien desselben Raums gearbeitet hatte, dachte sie bald in grösseren Dimensionen und konfrontierte Fotografien von unterschiedlichen Orten miteinander. 2011 projizierte sie in ihrer Installation «Randabfallend» Fotos von städtischen Randzonen auf Fassaden der Berner Altstadt. Zwei Welten, die aufeinanderprallten. Als «eine Konfrontation von Lebensräumen und urbanen Realitäten»  beschrieb die Künstlerin die Intervention. Wenn sie von Architektur spricht, dann denkt Angela Wüst an den Lebensraum, der durch diese nicht nur geschaffen, sondern auch gelenkt wird. «Wie man sich im Raum bewegt, das bestimmst du als Architektin. Ich meine das nicht politisch oder sozialkritisch, sondern ganz fundamental», erklärt sie. In dieser Frage ist es ihr wichtig, einen eigenen Standpunkt zu wählen, Blickwinkel zu setzen und den  Wahrnehmungsprozess der Betrachterinnen ihrer Arbeiten auf einer subjektiven Ebene zu fördern. Mit ihren Projektionen baut sie dabei selbst fiktiv und ephemer weiter. «Verschiebungen» heisst die Installation, die sie für Le-lieu im Palais Bleu vor Ort entwickelt hat. Noch deutlicher erinnert der Titel in der englischen Übersetzung «Displacements» an die einstigen Hospitalisierungen, als das Bürgerspital 1976 zum Pflegeheim umfunktioniert wurde. An die älteren und pflegebedürftigen Menschen, die ihr Zuhause verlassen hatten; ein neuer Lebensraum der ihrige wurde. «Verschiebungen» will aber auch die Bedeutungsverlagerungen ausdrücken, welche mit denselben Veränderungen im Lebeneinhergehen. Solche setzt auch die Künstlerin durch die Blickdispositive. Das Hinunterschauen auf die kleinen Fotografien steht im Gegensatz zum Aufwärtsschauen beim Betrachten der realen Gebäude im Städtchen und im Gegensatz zu den hier beinahe über die gesamte Wandhöhe projizierte Holzscheite. In Wirklichkeit sind diese nicht grösser als 30 cm. Das Material hat die Künstlerin im Übrigen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Raum, den vielen älteren Holzhäusern, ausgewählt. Und auch die Holzscheite sind Fundstücke aus der Nähe, stammen aus der Werkstatt des Hauses. Angela Wüst will mit ihrem künstlerischen Schaffen die Raumwahrnehmung fördern. Und in der Tat fördert die Positionierung entlang des Gangs und der Tiefe vielleicht eben auch die Wahrnehmung für das Rundherum, für die tatsächliche Höhe der einzelnen Etagen und des ganzen Gebäudes. Scheinbar wecken das Dispositiv mit der Blickrichtung nach unten und die Konzentration des nah beieinanderliegenden Geschehens auf die Enge des Gangs gerade das Bedürfnis nach einem Blick in die Weite! Auf eine ähnliche Art und Weise der umgekehrten Folgelogik berührt Angela Wüst eine weitere Ebene: Durch das Hineinbringen Trogener Wohnhäuser in den Innenraum macht sie auf den Standort des Palais Bleu aufmerksam, gliedert ihn in ein grösseres Ganzes ein und betont seine Einzigartigkeit. Angela Wüst wirft den Blick aus dem Palais Bleu hinaus in die Welt, oder holt die Welt in den Palais Bleu hinein.  

Vom Korridor im EG schreiten wir durch die Kellertüre hinaus in die Nacht, zum Hinterhof des Palais Bleu. Hier wirft Angela Wüst Projektionen auf die Nordfassade. Zum einen handelt es sich um ein Bild auf eine Kellertüre, das, eigentlich auch eine Konstruktion aus den bereits erwähnten Hölzern, wiederum reale architektonische Gegebenheiten vortäuscht. Das grosse Kaminrohr daneben wird durch einen Scheinwerfer extrem beleuchtet - erlangt als einzelnes Element Bedeutung in der Gesamtarchitektur. Eine weitere Projektion - nun im Gegensatz zu den analogen Diaprojektoren mittels leistungsstarkem Beamer - auf den zirka 25 Meter hohen ausspringenden Treppenhausanbau bildet den finalen Abschluss im Ausstellungsrundgang: Während wir im ehemaligen Spitalgang auf den Boden schauten, so strecken wir nun angesichts des hohen Architekturkörpers unsere Hälse. Bewegung gesellt sich zudem zur Installation: Schattenähnliche Gebilde verdecken zunächst Teile des Bilds, das erst allmählich und ohne erkennbares Gesetz freigelegt wird. Unterschiedliche Bilder tauchen auf, allesamt Fotografien von Hinterhöfen. Aber es sind Hinterhöfe von anderen Orten, welche sich über die Palais Bleu-Fassade wie ein Schleier der Erinnerung legen. Menschen, welche unterschiedliche Lebensräume verlassen hatten, hat auch das ehemalige Pflegeheim vereint. Die Erinnerungen an andere Orte tauchen an der Wand auf und verschwinden wieder. Auch hier sehen wir uns Situationen gegenübergestellt, die uns an gesehene architektonische Strukturen des Palais Bleu erinnern. Und auch hier verfolgt Angela Wüst mit den senkrecht ausgerichteten Strukturen ein Spiel zwischen Zweidimensionalem und Dreidimensionalem. Das ist an einem Ort, den früher kranke und gesunde Menschen gleichzeitig durchschritten und wo Geburt und Sterben parallel passierten, nicht nur auf architektonischer Ebene zu betrachten. Mit der Arbeit «Verschiebungen» fordert uns die Künstlerin dazu auf, über die Dimensionen unserer Lebensräume und unsere eigenen zu sinnieren, uns selbst zu verorten.

Céline Gaillard, Januar 2014

 

Für den zweiten Teil ihrer Intervention im Rahmen von Le-lieu #9 verfolgt Angela Wüst ein Konzept, das radikal mit dem ersten Teil bricht. In kurzem Abstand befragt sie den Ort ein zweites Mal auf sein Potential hin. Die Künstlerin demontierte alle Projektionen des Innenraums und zeigt statt ihrer andere Aufnahmen. Dabei fällt auch der Entscheid für neue Schauplätze: Das Kellergeschoss verlassend, bespielt sie nun das Parterre, insbesondere den Eingangsbereich, den Spitalgang und die kleine Küche neben dem Warenaufzug. Der Fokus der gezeigten Fotografien liegt nicht mehr auf den Architekturen Trogens selbst, sondern auf ihre Einbindung in der Landschaft. Statt der Miniaturprojektionen direkt über dem Boden erlangen die Bilder nun Übergrösse und werden auf Augenhöhe präsentiert. Die Überlagerung mithilfe der Holzscheite weicht zugunsten der Interaktion mit der vorhandenen Architektur, indem sich die Künstlerin für eine randabfallende Projektion auf die gegebenen Wandabschnitte entscheidet. 

Mit diesen wesentlichen Veränderungen hinterfragt Angela Wüst nicht zuletzt grundsätzlich die Bedingungen ortsspezifischen Kunstschaffens: Solches Arbeiten erfordert stets eine bewusste Analyse des Ortes, die Erkundung seiner Raumeigenschaften und Anforderungen. Werke, die explizit für einen Ort entstehen, sind in der Regel daher eng mit diesem verbunden und können, wenn überhaupt, nur in adaptierter Form an einem anderen Ort gezeigt werden. Lässt man sich nun auf diese Bedingungen mit so einer präzisen Arbeitsweise wie Wüsts ein, ist es dann überhaupt möglich, auf zwei unterschiedliche Arten zu reagieren? Wie verändern sich dadurch die Fragestellungen des Werks, seine Aussage und die Wahrnehmung des Raumes? Das Konzept von le-lieu versteht sich explizit als Plattform für solch experimentelles Schaffen. Angela Wüst stellte sich dieser hohen Anforderung und präsentiert, bewusst als Versuch angesetzt, aber ohne sich von der eigenen künstlerischen Ausdruckssprache zu entfernen, eine eindrückliche Antwort.

Céline Gaillard, Februar 2014

 

[1] Zit. aus: Caroll Lewis, Alice’s Adventures in Wonderland, Illinois 1998, S. 60 (5. Kapitel). Zu Deutsch: «und wenn man an einem Tage so oft klein und gross wird, wird man ganz verwirrt.»